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Antisemitismus sichtbar machen

vom 22. Dezember 2019 in Kategorie: Artikel

Gleich zweimal war im vergangenen Jahr der jüdische Friedhof in Boizenburg das Ziel – im September und im November wurde die Eingangstreppe mit Hakenkreuzen besprüht. In diesem Frühjahr traf es Stolpersteine in Strasburg – Unbekannte versuchten die Namen des 1942 deportierten und ermordeten jüdischen Ehepaares Wiersch von den Gedenkobjekten zu tilgen. Im Oktober, nur wenige Tage nach dem Anschlag von Halle wurden in Neustrelitz antisemitische Hetzbotschaften und Hakenkreuze in der Nähe eines Gedenksteines geschmiert. Für das Jahr 2018 meldete die Landesregierung insgesamt 56 solcher antisemitischen Straftaten (2017: 46, 2016: 39), die mit zwei Ausnahmen alle der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) rechts zugeordnet wurden.

Doch diese Zahlen dürften nicht das tatsächliche Ausmaß widerspiegeln. So gibt es, wie bei allen Deliktarten, auch in der PMK ein Dunkelfeld an Taten, von denen die Ermittler nie erfahren, weil sie nicht angezeigt werden. Laut einer Umfrage der EU-Grundrechteagentur zeigen dreiviertel der Betroffenen nicht einmal schwerwiegende Ereignisse an, weil sie den Eindruck haben, »dass eine Meldung nichts bewirken würde«.

Zudem kam der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestags in einem Sonderbericht zu dem Schluss: »Man darf […] die Zahlen der PMK-Statistik nicht als Abbild der Realität missverstehen, vielmehr ist aufgrund des Aufbaus des PMK-Erfassungssystems und der Routinen der polizeilichen Erhebungspraxis mit einer systematischen Unterschätzung antisemitischer Vorfälle zu rechnen.« Unter dieser Maßgabe müssen auch Meldungen rückläufiger Zahlen gelesen und hinterfragt werden, wie es sie beispielsweise in Folge antisemitischer Schmierereien wiederholt gab.

Dem »Lagebild Antisemitismus in Mecklenburg-Vorpommern« von Amadeu-Antonio-Stiftung und Lola für Demokratie zufolge, zeigt sich Antisemitismus im Alltag an unterschiedlichen Stellen, vor allem über Schmierereien – aber auch über tätliche Angriffe auf Menschen. Insbesondere Schändungen jüdischer Friedhöfe, Angriffe auf Gebäude der jüdischen Gemeinden und die Schändung von Stolpersteinen häuften sich um Gedenktage herum oder wenn sich der Nahostkonflikt zuspitze.

Nicht zu viel Angst haben

Zugang zu persönlich Betroffenen einer antisemitischen Straftat zu finden, ist nicht leicht. Die Vorstandssprecherin der Schweriner Jüdischen Gemeinde, Natella Levi, sagt, in ihrer Gemeinde seien keine Vorkommnisse bekannt. Ihr Kollege in Rostock, der Gemeindevorsitzende Juri Rosov, berichtet von zunehmenden Ängsten unter den Gemeindemitgliedern, sieht aber in der Hansestadt keine erhöhte Gefährdung: »Ich kann nicht bestätigen, dass es viel mehr Probleme mit Antisemitismus gibt als früher.« Rosov nimmt dennoch eine wachsende Unsicherheit unter seinen Mitgliedern wahr. Sie begännen, ihr Verhalten zu ändern, kämen etwa nur noch selten ins Gemeindezentrum, weil sie mehr Angst als früher hätten. Besonders fatal sei dies, weil viele der Mitglieder als Einwander*innen ohnehin nicht besonders gut integriert seien und so noch mehr zu Hause säßen. »Wenn sie nur noch zum Einkaufen raus gehen, ist das schlecht, denn dann ist Integration wirklich gescheitert.«

Doch natürlich ist Antisemitismus real, auch in Rostock. So sei ein junger Mann angefeindet worden, wenn er außerhalb des Gemeindehauses Kippa trug. »Er wurde von anderen Jugendlichen attackiert und geschubst«, sagt Rosov. Bei älteren Mitgliedern passiere das aber nicht. »Oft vergesse ich, wenn ich aus der Gemeinde gehe, meine Kippa abzunehmen.« Allerdings werden die Gemeindemitglieder in Rostock eher als Russen und nicht als Juden wahrgenommen. »Wir sollten die Gefahr nicht kleinreden, aber wir müssen auch nicht zu viel Angst haben«, sagt Rosov. Das versuche er auch immer wieder seiner Gemeinde zu erklären.

Monitoring in anderen Bundesländern

»Das bedeutet nicht, dass es keine antisemitische Gefahr gibt. Wir kriegen E-Mails, die sind auch ziemlich eindeutig und kommen aus der rechten Ecke.«  Doch nicht alle antisemitischen Vorfälle sind strafrechtlich relevant und werden demnach auch nicht statistisch durch die Polizei erfasst. Für die Betroffenen wirken sich diese Anfeindungen dennoch negativ auf ihr Sicherheitsempfinden aus.

Um sich einem realistischeren Lagebild zu nähern, erfassen die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) zusätzlich auch verletzendes Verhalten, Massenzuschriften und Versammlungen mit antijüdischen Inhalten. Ziel des Vereins ist dabei, die flächendeckende und bundesweit einheitliche Dokumentation antisemitischer Vorfälle über regionale Meldestellen zu gewährleisten. In Berlin betreibt RIAS schon seit 2015 eine derartige Meldestelle. In Bayern und Brandenburg startete das Projekt im Frühjahr diesen Jahres. Der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle (CSU) hält die Einrichtung für unverzichtbar und begründete dies gegenüber dem jüdischen Onlineportal Hagalil: »Das Melderegister kann aus meiner Sicht entscheidend dazu beitragen, Antisemitismus in seinen Ausprägungen im Alltag sichtbar zu machen, und liefert einen Ansatz, dagegen anzugehen.«

RIAS setzt mit der regionalen Verankerung in den Bundesländern und der mehrsprachigen Website report-antisemitism.de auch auf Informationen durch die Betroffenen selbst und von Zeug*innen. Dadurch würden Vorfälle gemeldet, die sonst nicht bekannt geworden wären. Die gezielte Ansprache auf das Thema Antisemitismus und der niedrigschwellige Zugang erleichtert es offenbar, mit den Meldestellen in Kontakt zu treten. Wünschen die Betroffenen weitere Unterstützung, vermittelt sie RIAS zu bestehenden Angeboten von Opferberatungen, Mobiler Beratung und Antidiskriminierungsberatungen in den jeweiligen Bundesländern.

Erste Schritte in M-V

Ein Monitoring antisemitischer Bedrohungslagen und Vorfälle existiert in Mecklenburg-Vorpommern bislang nicht. Im April hatte der Landtag mit den Stimmen von Fraktionen der CDU, SPD, DIE LINKE und Freie Wähler/BMV lediglich beschlossen, den Posten eines Antisemitismusbeauftragen zu schaffen. Seit Ende Oktober ist dieser nun ehrenamtlich im Auftrag des Justizministeriums tätig. Es muss angezweifelt werden, ob der Problematik damit genüge getan ist.