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“Die, die das gemacht haben, …

vom 14. Februar 2018 in Kategorie: Artikel

Am 4. November 2017 jährte sich die Selbstenttarnung der Kerngruppe des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zum sechsten Mal. Nach einer Zeit intensiver Diskussionen über die Taten des rechten Terrornetzwerks und die Rolle staatlicher Akteur*innen sind Medien, Politik und große Teile der Zivilgesellschaft längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Das in wenigen Monaten zu erwartende Urteil am Münchner Oberlandesgericht wird daran wohl nur kurzfristig etwas ändern. 

Es sind vor allem die Angehörigen der Opfer, die Betroffenen der Anschläge und migrantische Initiativen, die sich weiterhin für eine umfassende Aufklärung und ein würdiges Gedenken einsetzen. Alle, denen es wirklich ernst damit ist, Konsequenzen aus dem NSU-Komplex zu ziehen, sollten ihnen endlich zuhören, auch und gerade in Mecklenburg- Vorpommern.

Gebrochene Versprechen

»Sie haben vielleicht viel dafür getan, dass diese fünf hier verurteilt werden. Aber was ist mit den ganzen anderen? Ich glaube nicht daran, dass Sie noch irgendwann jemanden anderes anklagen. Für Sie ist die Sache doch hier abgeschlossen. […] Sie haben das Versprechen gebrochen!« Mit diesen Schlussworten fasste Gamze Kubaşık am 22. November zusammen, was sie vom Verlauf des NSU-Prozesses hält. Die Tochter des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık sprach damit sicher auch vielen anderen Betroffenen aus dem Herzen. 

Im Februar 2012 hatte ihnen die Bundeskanzlerin versprochen, dass alles getan werde, um die Morde aufzuklären, Hintermänner aufzudecken und alle Täter*innen ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Viele hatten dieses Versprechen ernst genommen.  »Unser Vertrauen in die deutsche Justiz ist groß«, sagte damals etwa Ismail Yozgat, Vater von Halit Yozgat, der am 6. April 2006 in Kassel ermordet wurde. 

Knapp sechs Jahre später geht in München einer der größten und bedeutendsten Prozesse der bundesdeutschen Geschichte seinem Ende entgegen. Weit mehr als 500 Zeug*innen wurden gehört, über 400 Verhandlungstage fanden bisher statt. Noch nie hat sich ein Gericht hierzulande dermaßen umfangreich mit rassistischer Gewalt nach 1945 auseinandergesetzt. Doch als die Generalbundesanwaltschaft dann im Sommer 2017 ihr Plädoyer hielt, geschah das, was viele Beobachter*innen erwartet hatten. Wie schon in der Anklageschrift legte sie sich auch in ihrem Schlussvortrag darauf fest, dass die Terrorgruppe aus genau drei Mitgliedern bestand, die lediglich von einer Handvoll Personen unterstützt wurde. Von einem bundesweiten Netzwerk könne keine Rede sein. Eine Annahme, die durch Erkenntnisse aus  parlamentarischen Untersuchungsausschüssen des Bundes- und zahlreicher Landtage längst widerlegt ist. Auch von der versprochenen Aufdeckung möglicher Hintermänner war wenig zu hören. 

Ismail Yozgat hat vor diesem Hintergrund sein Vertrauen längst verloren. Im Prozess sagte er, dass er das Urteil solange nicht anerkennen kann, bis die Rolle des ehemaligen Verfassungsschützers Andreas Temme beim Mord an seinem Sohn geklärt ist. Der damalige V-Person-Führer des hessischen Landesamtes hielt sich unmittelbar vor den tödlichen Schüssen im Internetcafé von Halit Yozgat auf.

Hauptzeug*innen des Geschehenen

Immer mehr Angehörige der NSU-Opfer und andere Betroffene rassistischer Gewalt gehen längst eigene Wege, um eine Aufarbeitung der Terrorserie voranzubringen. Gemeinsam mit Initiativen und solidarischen Einzelpersonen gründeten sie schon vor Jahren das bundesweite Netzwerk NSU-Komplex auflösen! 

Vorläufiger Höhepunkt ihrer Arbeit war ein Tribunal gleichen Namens, das vom 17. bis zum 21. Mai 2017 in Köln stattfand. In unmittelbarer räumlicher Nähe zur Keupstraße, in der der NSU am 9. Juni 2004 eine Nagelbombe zündete, fanden unzählige Workshops, Podiumsdiskussionen, Theateraufführungen und Vorträge statt. Dabei ging es vor allem um eines: die Perspektive der Betroffenen. Zahlreiche Angehörige der vom NSU Ermordeten sprachen von dem, was sie erleiden mussten, und stellten Forderungen auf. Menschen, die bereits in den 1980er und 1990er Jahren von rassistischer Gewalt betroffen waren, solidarisierten sich mit ihnen.

Zum Abschluss dieser ebenso beeindruckenden wie bedrückenden Tage wurde eine rund 70-seitige Anklageschrift verlesen. In dieser Anklage wird das gesellschaftliche Klima benannt, in dem der NSU entstehen und jahrelang agieren konnte, während Strafverfolgungsbehörden ebenso lange die Schuld bei den Opfern und ihrem sozialen Umfeld suchten. Sie benennt aber auch konkrete Akteur*innen: aus der organisierten Neonaziszene ebenso wie Journalist*innen, die rassistische Ressentiments beförderten, Wissenschaftler*innen, die die Gefahr rechten Terrors jahrelang kleinredeten, oder Geheimdienstmitarbeiter*innen, die durch Vernichtung von Beweisen eine umfassende Aufarbeitung behördlichen Fehlverhaltens unmöglich machten.

Den NSU-Komplex auflösen konnte dieses Tribunal natürlich nicht. Doch es konnte Berichte von Betroffenen, Ergebnisse journalistischer Recherchen und parlamentarischer Untersuchungsausschüsse zusammentragen und in einem wichtigen Dokument bündeln. Es konnte Vernetzung vorantreiben und vor allem jene stärken, die viel zu oft im Abseits stehen.

Zu lesen ist die Anklage des Tribunals unter:
nsu-tribunal.de/anklage

Und Mecklenburg-Vorpommern?

Auch hierzulande machen sich vor allem migrantische Organisationen seit Jahren für eine konsequente Aufarbeitung des NSU Terrors stark. Zuletzt forderte deren landesweites Netzwerk MIGRANET-MV im Oktober 2017 in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit der LOBBI die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA). 

In nahezu allen Tatortländern und auf Bundesebene wurden solche Ausschüsse eingerichtet. Viele haben bereits ihre Abschlussberichte vorgelegt. Doch der hiesige Landtag konnte sich bisher lediglich dazu durchringen, einen Unterausschuss zum Thema einzurichten, der an den Schweriner Innenausschuss angebunden ist. Ein echter Papiertiger, dem bereits die Bundesanwaltschaft eine Zuarbeit mit Verweis auf fehlende Befugnisse verweigerte. 

Doch spätestens seit den ersten Expert*innen-
anhörungen ist die Notwendigkeit eines »echten« Ausschusses nicht mehr zu leugnen. So wurden gerade in der SPD die Stimmen immer lauter, die das Experiment Unterausschuss für gescheitert erklärten. Im März 2018 soll nun ein PUA die Taten des NSU und die Rolle, die Behörden in diesem Zusammenhang spielten, aufklären. Bleibt zu hoffen, dass der politische Wille, dies mit aller Konsequenz zu tun, diesmal ausgeprägter ist.