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“Die haben uns nicht ernst genommen”

vom 14. August 2015 in Kategorie: Artikel

Im August letzten Jahres wurde José Paca, der Vorsitzende des Ausländerbeirats in Erfurt, von zwei Männern rassistisch beleidigt und mit Waffen massiv bedroht.  In der darauffolgenden polizeilichen Befragung fühlte er sich streckenweise wie als Beschuldigter behandelt. Als Opferberatungsstelle schilderten uns Betroffene rechter Gewalt immer wieder ähnlichen Erlebnisse, die eine sekundäre Viktimisierung, also eine erneute Opferwerdung, für die Betroffenen zur Folge hatten. Um über den Einzelfall hinaus eine Debatte über die Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei anzustoßen, haben wir als ezra – Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen – Wissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena damit beauftragt, eine empirische Untersuchung unter den Betroffenen rechter Gewalt, die bei ezra in Beratung waren, durchzuführen.

Sekundäre Viktimisierung und die Folgen
Sekundäre Viktimisierung entsteht nicht nur durch Fehlreaktionen der Polizei, sondern auch durch weitere Instanzen der formellen Sozialkontrolle wie Staatsanwaltschaft und Gerichte und/oder durch das soziale Umfeld von Betroffenen wie Freund_innen, Bekannte oder Familienangehörige. Unterschiedliche Reaktionen können dafür verantwortlich sein – beispielsweise die Bagatellisierung der Tat, Mitschuldvorwürfe oder unsensibles Verhalten.
Die Betroffenen können sich in der Folge unverstanden oder abgewertet fühlen. Gerade die Zuschreibung einer Mitschuld oder sogar der vollen Verantwortung für die Tat kann zu Selbstvorwürfen führen, die die Folgen der eigentlichen Opfererfahrung verstärken. Die Betroffenen fühlen sich, als ob sie noch einmal zum Opfer geworden sind. Im Rahmen der Studie beschreibt eine Betroffene ihre Erfahrungen mit der polizeilichen Zeugenvernehmung eindrucksvoll: „Also ich hatte Momente, wo ich einfach heulen wollte, wo ich wirklich gedacht habe, ich muss mich hier für Sachen rechtfertigen, der Typ nimmt mich überhaupt nicht ernst, der hört mir überhaupt nicht zu und bringt eigentlich ein rassistisches, sexistisches Ding nach dem anderen.“

Kein Einzelfall
Der Verdienst der Studie ist es, dass sie belegen kann, dass es sich bei solchen Erfahrungen nicht um Einzelfälle handelt. Viele Betroffene sahen sich in der Tatsituation und im Nachtatsbereich, also in den auf die Tat folgenden polizeilichen Ermittlungen, mit Fehlverhalten durch die Polizei konfrontiert. So fühlte sich nur jeder zweite in der Tatsituation durch die Polizei ernstgenommen. Auch hatte die Hälfte der Befragten kurz nach der Tat nicht das Gefühl, dass die Polizei vor Ort sie als Betroffene der Gewalttat betrachtete. Im Nachtatsbereich fühlte sich über ein Fünftel als Täter_in und nichxt als Opfer einer Straftat behandelt. Zudem bezweifelt mehr als die Hälfte in der Tatsituation und fast zwei Drittel der Befragten im Nachtatsbereich, dass die Polizeibeamt_innen wirklich an der Aufklärung der politischen Tathintergründe interessiert waren. Insgesamt fühlten sich zwischen 12 % und 31 % der Befragten durch die Polizei in der Tatsituation erneut geschädigt.

Empfehlungen
Als Ursachen hierfür sehen die Autor_innen der Studie neben mangelnder Sensibilität, Empathie oder Professionalität einzelner Beamt_innen auch strukturelle Probleme, wie Vorurteile und Rassismus unter den Polizeibeamt_innen. Hierzu schlagen sie verschiedene Maßnahmen vor. Zum einen sollten in der Aus- und Weiterbildung von Polizist_innen flächendeckend Emphatie und Sensibilität verstärkt vermittelt und vorurteilsreduzierende Maßnahmen implementiert werden. Dazu gehört auch ein Verständnis von Viktimisierungsprozessen und ihren Folgen. Aber auch die Vermittlung von Rechten und Möglichkeiten von Gewaltopfern sollten bei der Polizei unbedingt thematisiert werden – hier sah sich ein Großteil der Befragten nicht hinreichend informiert. Zusätzlich fordern die Wissenschaftler den Anteil von Polizeibeamt_innen mit Migrationshintergrund zu erhöhen, die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Ermittlungen innerhalb der Polizei und die Verpflichtung der Ermittlungsbehörden, bei Gewalttaten gegen Angehörige der typischen Opfergruppen rechter Gewalt ein politisches Tatmotiv durch aktive Ermittlungsarbeit zu überprüfen.

Die Studie steht auf www.ezra.de zum Download bereit, kann aber auch als gedruckte Broschüre kostenlos bei ezra bestellt werden.